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Fünf Jahre Selbstverwaltung
Von Dominik Hummel, Obmann der Wiener Gebietskrankenkasse
Die erste Elappe der Selbstverwaltung der österreichischen Sozial¬
versicherung ist nun vorüber. Tausende Funklionäre hatten durch fünf Jahre*)
Gelegenheit, in Hauptversammlungen, Vorständen, Landesstellen und in ver¬
schiedenen Ausschüssen mit den wichtigsten Fragen vertraut zu werden und
wichtige Entscheidungen zu treffen. Es ist daher wohl angezeigt, über die
vollbrachten Leistungen der Selbstverwaltung zu berichten.
Im Gegenteil, wir haben besonders
vom österreichischen Arbeiter und
Angestellten eine hohe Meinung.
Raunzen und Nörgeln ist aber eine
Erbsünde und manche Menschen
können von ihr schwer lassen. Der
Funktionär kann in einer Betriebs¬
oder Gewerkschaftsversammlung
mit Engelszungen reden, die Ge¬
werkschaftspresse kann noch so
klar und eindringlich schreiben,
wenn Kollege X dann mit Kollegen
Y spricht, ziehen sie doch wieder
einmütig über Betriebsrat und Ge¬
werkschaft los. Es ist viel einfacher,
scheinbar vor sich und dem an¬
deren recht zu behalten, seinem
Unmut freien Lauf zu lassen, auf¬
zutrumpfen, als Gehörtes und Ge¬
lesenes zu überlegen und vernünf¬
tig zu urteilen.
Wenn das geschehen würde,
wenn man Gegenargumente hören
würde, wäre es nämlich bald klar,
warum eine Sache vom Betriebsrat
oder von der Gewerkschaft so und
nicht anders behandelt wurde,
warum nur ein siebzig- und kein
hundertprozentiger Erfolg errun¬
gen oder warum eine Angelegen¬
heit fallengelassen wurde. Es
würde auch klar, daß weder Be¬
triebsrat noch Gewerkschaftsbund
Tausendsasas sind, die alles
wunschgemäß zur Zufriedenheit
jedes einzelnen erledigen- können.
Hier, wie überall im Leben, ent¬
scheiden die Lage und das Kräfte¬
verhältnis.
Es kann aber auch Fälle geben,
wo eine Kollegin oder ein Kollege
wirklich im Recht zu sein scheint.
Eine Leistung der Gewerkschaft
oder der Sozialversicherung, auf
die man Anspruch zu haben glaubt,
wurde verweigert, oder es wurde
eine ungenügende Auskunft ge¬
geben oder eine schlechte Be¬
handlung zuteil. Auch hier muß
man erst die Gegenseite hören, be¬
vor man ein abschließendes Urteil
fällen kann. Man kann sich an
einen Vertrauensmann oder an die
Gewerkschaft um Auskunft wenden,
und auch die Redaktion der „Soli¬
darität" ist gerne bereit, schriftliche
Anfragen zu beantworten.
Schließlich sind aber weder Be¬
triebsrat noch Gewerkschaft unfehl¬
bar. Auch die Angestellten in den
Gewerkschaften und Sozialeinrich¬
tungen sind nur Menschen, die
eben auch Schwächen haben. Es
kann auch verschiedene Meinungen
zu ein und demselben Problem ge¬
ben. Eine sachliche Auseinander¬
setzung ist immer erwünscht und
befruchtend. Es ist in einer großen
Bewegung, wie sie die Gewerk¬
schaftsbewegung ist, und in einem
großen Apparat, zu dem die So¬
zialversicherung auf Grund ihrer
vielen Aufgaben werden mußte,
unvermeidlich, daß es Obeistände
gibt. Sie gehören kritisiert, aber
man hüte sich, das Kind mit dem
Bade auszuschütten.
Niemand wird auf das, was er
schätzt und wert findet, schimpfen.
Wir müssen auf unsere große Be¬
wegung stolz sein und sollen unser
eigenes Nest nicht beschmutzen.
Eine ehrliche Meinung, eine sach¬
liche Kritik ist immer am Platz, aber
wenn jemand bramarbasiert oder
die Arbeit und die Leistungen des
Betriebsrates, der Gewerkschaft
oder der Sozialversicherung verun¬
glimpft, dann liegt es im persön¬
lichen Interesse jedes einzelnen und
im gemeinsamen unserer Organi¬
sation, ihn freundschaftlich aufzu¬
klären, daß jedes Ding zwei Seiten
hat.
Seite 2 Nr. 185 SOLIDARITÄT
Die Funktionäre der Selbstverwal¬
tung haben außerordentlich zahlreiche
Verpflichtungen und eine große Ver¬
antwortung. Zur allgemeinen Verant¬
wortung gegenüber den Versicherten
und der Öffentlichkeit tritt die per¬
sönliche Haftung, die zu besonderer
Vorsicht und Gewissenhaftigkeit
mahnt. Dazu kommt die den Ver¬
sicherungsvertretern durch die Inter¬
essenvertretungen der Arbeitnehmer
und Arbeitgeber gestellte Aufgabe.
sowohl den Bedürfnissen der Ver¬
sicherten zu entsprechen als auch
die Interessen des Instituts zu
wahren.
Sehr häufig sind es die finanziellen
Verhältnisse, die dem Funktionär bei
der Entscheidung grundsätzlicher Fra¬
gen Sorgen bereiten. Seine Entschei¬
dung stößt nur allzu leicht entweder
bei der einen oder bei der anderen
Gruppe auf Unverständnis oder gar
auf Widerstand. Hinzu kommt noch,
daß auf Grund des öffentlich-recht¬
lichen Charakters der Sozialversiche¬
rungsträger deren Selbstverwaltung
der Aufsichtsbehörde verantwortlich
ist.
Die Selbstverwaltung wird natürlich
durch das Gesetz, durch Erlässe und
durch die Satzung in ihrer Freizügig¬
keit beschränkt. Da die Satzung der
Genehmigung des Bundesministeriums
für soziale Verwaltung bedarf, sind
auch der Hauptversammlung bei der
Beschlußfassung hierüber gewisse
Grenzen gesetzt.
Arzte und Krankenkassen
Die Tätigkeit der Verwaltungs¬
körper und die Zusammenarbeit
zwischen Dienstnehmern und Dienst¬
gebern kann — im großen und ganzen
gesehen — als befriedigend bezeich¬
net werden. Gewiß kam es fallweise
zu Meinungsverschiedenheiten, bedingt
durch eine in der Natur der Sache
gelegene differenzierte Auffassung
zwischen der Arbeitnehmer- und Ar¬
beitgebergruppe, doch konnten die
jeweils entstandenen Differenzen zu¬
meist bereinigt und die Beschlüsse
einstimmig gefaßt werden.
Zu den schwierigsten Aufgaben der
Geschäftsführung gehörte zweifellos
die Regelung der Beziehungen
zwischen den Ärzten und
den Kassen. Die durch die
Ärzte zu erfolgende Betreuung der
Versicherten ist die Grundlage
aller Leistungen, die von den
Krankenkassen zu erbringen sind.
Die Einstellung des Arztes zur
Sozialversicherung ist daher von we¬
sentlicher Bedeutung für das Ver¬
hältnis der ärztlich Betreuten zur
Krankenkasse. Wir brauchen die posi¬
tive Mitwirkung der Ärzte, um eine
gute Atmosphäre zu schaffen, in der
sich auch die Versicherten wohl
fühlen.
Von diesem Grundsatz haben wir uns
innerhalb der vergangenen fünf Jahre
leiten lassen. Wir haben finanzielle
Konzessionen gemacht, die über den
gesetzlichen Rahmen hinausgingen
und außerordentliche Mittel des Bud¬
gets erforderten. Abgesehen von
einigen Symptomen des guten Willens
der Ärzteschaft muß je'doch mit Be¬
dauern festgestellt werden, daß ein
zufriedenstellendes Einvernehmen zwi¬
schen Ärzten und Krankenkassen —
wie es unser Ziel ist — noch nicht
erreicht wurde. Es wird der An¬
strengungen aller in Betracht kom¬
menden Stellen bedürfen, um den
Weg einer einträchtigen Zusammen-
*) Im Jahre 1948 erfolgte in den meisten
Sozielversicherungsinstituten die Konstituierung
der Vorstände auf Grund des Soziolversiche-
rungs-üherleitungsgesetzes 1947.
arbeit im Interesse der Versicher¬
te n zu ebnen. Hiefür wird aber nicht
bloß der Wille der Krankenkassen,
sondern auch jener der Ärztekammern
ausschlaggebend sein.
Die Versicherten erwarten von den
in Betracht kommenden Instanzen —
nämlich von den Ärztekammern -—
eine Lenkung zumindest des fach¬
ärztlichen Dienstes. Von einer solchen
Planung im Interesse der Erkrankten
ist bis heute nichts bekannt geworden,
obwohl die Zahl der Fachärzte —
das beweist das ununterbrochene Ein-
strömen von Fachärzten nach Wien
— hiefür genügend Anlaß bieten
würde.
Große oder kleine Krankenkassen?
Was nun die von gewisser Seite er¬
hobene Forderung nach W a h 1 k a s-
s e n betrifft, sei die Frage erhoben:
Welchen praktischen Sinn kann ihre
Einrichtung haben? Diese Organisa¬
tionsform hätte dodi vor allem eine
Aufsplitterung der Versicherten zur
Folge. Wohl könnte der Versicherte
seine Kasse „wählen", aber es besteht
nicht die geringste Wahrscheinlich¬
keit, daß außer dieser Wahl ein wei¬
terer Vorteil für ihn entstünde. Die
kleineren Krankenkassen haben durch¬
wegs höhere Verwaltungs¬
kosten als die größeren Institute.
Das ist begreiflich, da diese Art der
Organisation ganz zwangsläufig ver¬
mehrte Kosten verursachen muß.
Diese Kassen könnten weder eine ent¬
sprechend große Zahl von Ärzten be¬
schäftigen noch wären sie aus finan¬
ziellen Gründen in der Lage, den Er¬
fordernissen der ununterbrochen an¬
haltenden Entwicklung der Medizin
zu entspredren. Soll jedoch durch
Wahlkassen eine „Entbürokrati¬
sierung" der bestehenden Kran¬
kenkassen erreicht werden, so sei
folgendes festgestellt:
Die Organe der Selbstverwaltung
waren und sind ununterbrochen be¬
müht, jeden Formalismus und jede
Bürokratie zu bekämpfen. Es wer¬
den weiterhin alle Anstrengungen
gemacht, um jeden Arbeitsvorgang
zu vereinfachen. Der Versicherte,
aber auch der mit der Kasse in Ver¬
bindung stehende Dienstgeber sol¬
len die Gewißheit haben, daß rasch
und unkompliziert gearbeitet wird.
So war zum Beispiel die Wiener
Gebietskrankenkasse in den vergan¬
genen fünf Jahren bemüht, ihre Ein¬
richtungen den Versicherten näher¬
zubringen. Es wurden überdies 16 Be¬
schwerdestellen geschaffen, in denen
die Versicherten in den Abendstunden
den anwesenden Funktionären nicht
nur Beschwerden, sondern auch An¬
regungen vortragen können. Eine
Fülle solcher Wünsche ist im Laufe der
Jahre verwirklicht worden. Die schrift¬
lichen und mündlichen Beschwerden
werden über Auftrag der Selbst¬
verwaltung durch die Direktion er¬
hoben und beantwortet.
Die ' Angestellten werden immer
wieder auf ihre Pflicht zur unbeding¬
ten Höflichkeit und zur sozialen
Einstellung gegenüber den Versicher¬
ten aufmerksam gemacht. Es unter¬
liegt keinem Zweifel, daß der durch
die autoritäre Verwaltung der Jahre
19J4 bis 1945 entstandene Bürokratis¬
mus mit Erfolg bekämpft wurde und
sicherlich weitestgehend ausgemerzt
werden kann.
Es bedarf aber auch der M i t-
hilfe der Versicherten,
denen durch die erwähnten Einrich¬
tungen die Möglichkeit dazu ge¬
geben wurde.
Die Richtlinien des Hauptverbandes
zur Regelung der dienst-, besoldungs-
und pensionsrechtlichen Verhältnisse
der Sozialversicherungsbediensteten
sind im Interesse einer zufriedenen
Angestelltenschaft durch die Vorstände
beschlossen worden. Den Angestellten
ist beispielsweise nach Ablauf einer
bestimmten Dienstzeit das Recht auf
Unkündbarkeit sichergestellt worden.
Den in den kasseneigenen Ambula¬
torien tätigen Ärzten wurden gleich¬
falls sehr weitgehende Rechte ge¬
sichert.
Vor schweren Aufgaben
Seit dem Jahre 1945 wurden durch
die österreichische Gesetzgebung die
Leistungen in der Renten-, Un¬
fall- und Krankenversicherung e r-
weitert. Die gesellschaftliche Struk¬
tur hat sich in einer Weise ver¬
ändert, die auf die Sozialversiche¬
rung entscheidenden Einfluß ausübt.
Dies trifft vor allem auf die er¬
höhte Lebenserwartung zu.
Im Jähre 1892 starben von 100.000
Arbeitern 1321 Männer und Frauen.
Diesen 1,32 Prozent steht im Jahre
1951 ein Prozentsatz von 0,55 gegen¬
über*). Je stärker die Sterblichkeit
zurückgeht — und dies ist erfreu¬
licherweise ununterbrochen der
Fall —, um so höher die finanziellen
Anforderungen an die Renten- und
Krankenversicherung.
Die Selbstvefwaltung der Sozial¬
versicherung steht vor schweren Auf¬
gaben. In der Renten- wie in der
Krankenversicherung sind die Aus¬
sichten für die finanzielle Entwicklung
außerordentlich ungünstig. Es ist zu
hoffen, daß die bereits zum Teil ge¬
troffenen Vorbereitungsarbeiten zu
einem neuen Krankenversiche-
rungsgesetz bald abgeschlossen
werden können.
Die Reform der österreichischen
Krankenversicherung wird dann den
Bedürfnissen der Versicherten gerecht
werden, wenn sie an das alte öster-
reichische Recht aus dem Jahre 1933
anknüpft, aber auch die in den letz¬
ten zwei Jahrzehnten erfolgte Ent¬
wicklung mit den gegebenen Verhält¬
nissen in Einklang bringt.
Die Aufgaben der neuen Selbst¬
verwaltung werden also sein: Aktive
Beteiligung an dem Ausbau der
Gesetzgebung, Verwaltungsverein-
fachung, die Fortsetzung der Entbüro¬
kratisierung und nicht zuletzt die
Demokratisierung der So¬
zialversicherung, durch welche
eine positive Teilnahme und An¬
erkennung der Versicherten erreicht
werden soll.
Einspruch gegen Kündigung
Ein Betriebsrat hatte anläßlich einer
Kündigung von Arbeitnehmern zwar inner¬
halb der vorgeschriebenen Drei-Tage-Frist
mündlich der Kündigung aus dem Grund
der sozialen Härte widersprochen, diesen
mündlichen Widerspruch aber erst nach
Ablauf der dreitägigen Frist schriftlich
besl»tigt.
Das Einigungsamt Wien hat der An¬
fechtung Folge gegeben und die Kündi¬
gungen für unwirksam erklärt. Die Dienst-
geberin brachte darauf eine Beschwerde
beim Verwaltungsgerichtshof ein. Dieser
entschied nun am 18. Dezember 1952
(ZI. 1006 52-3), die Ansicht der Arbeit¬
geberin, der mündliche Widerspruch sei
rechtlich bedeutungslos, weil Paragraph 33,
Absatz 3, letzter Satz, der Betriebsrats-
geschäftsordnung hiefür Schriftlichkeit ver¬
lange, sei nicht begründet; denn das Ge¬
setz selbst schreibt für die Erklärung der
Stellungnahme durch den Betriebsrat eine
bestimmte Form nicht vor-
Der Wortlaut des Paragraphen 25, Ab¬
salz 2, Betriebsrätegesetz, lasse sowohl
eine schriftliche als auch eine mündliche
Form der Erklärung des Betriebsrates an
den Betriebsinhaber zu. Daher könne der
abweichenden Regelung des Paragraphen 33,
Absatz 3, Betriebsratsgeschäftsordnung,
keine andere rechtliche Bedeutung als
die einer bloßen ..Soll '-Vorschrift zukom¬
men, deren Nichtbeachtung die Erklärung
keinesfalls unwirksam machen könne.
Es wird aber trotzdem immer emp¬
fehlenswert sein, daß der Betriebsrat einen
Einspiuch gegen Kündigung zeitgerecht
schriftlich erhebt, da sonst in einem Rechts¬
verfahren die Beweisführung, daß der Ein¬
spruch zeitgerecht mündlich erfolgte, nicht
immer einwandfrei möglich sein wird.
*) Von 535 &5.'j beschäftigten Arbeitern uml
Angestellten starben 2968.
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