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Full text: Solidarität - Jänner 1954, Heft 208 (208)

natürlich auch im gegebenen Falle eine höhere Rente. Ferner sollen die bisher nicht sozialversicherungs¬ pflichtigen Lohnanteile, wie Schmutz¬ zulagen, Weihnachtsremuneration, dreizehnter oder vierzehnter Mo¬ natsgehalt usw., in die Beitrags¬ pflicht zur Sozialversicherung ein¬ bezogen werden. Gewiß ein Opfer für die Arbeit¬ nehmer, aber die Probleme der Rentenerhöhungen müssen gelöst werden, wenn der Wunsch aller Arbeiter und Angestellten nach einem sorglosen, von keinen wirt¬ schaftlichen Nöten bedrückten Le¬ bensabend in Erfüllung gehen soll. Trotz der Sorge um die Existenz der alten Arbeiter und Angestellten wird aber auch die Forderung nach der Volkspension, in die alle Berufsschichten, auch die Klein¬ bauern, einbezogen sind, und die Forderung nach einer ausreichen¬ deren Beihilfe für kinderreiche Fa¬ milien nicht verstummen. Erst mit der Lösung dieser Fragen wird Österreich in der Sozialversiche¬ rung den Anschluß an sozial hoch¬ stehende europäische Länder ge¬ funden haben. Die Kasse ist leer Der Verlag des österreichischen Ge- werkschaitsbundes, dessen Auigabe es ist, für alle Arbeiter, Angestellten und Betriebsräte wichtige und wert¬ volle Bücher und Gesetzesbroschüren zum Selbstkostenpreis herauszubrin¬ gen, versendet im Bedarfsfälle an die Betriebsräte größerer Betriebe eine Musterkollektion mit Neuerscheinun¬ gen. Die Kolleginnen und Kollegen sollen die Katze nicht im Sack kaufen, sondern sich davon überzeugen, daß sie um ihr gutes Geld auch gute und billige Bücher erhalten. In diesen Kollektionen sind immer die neuesten, für den Betriebsrat un¬ entbehrlichen Bücher und Gesetzes¬ broschüren enthalten, die er auf Grund des Betriebsrätegesetzes kau¬ fen und auch aus dem Betriebsrats- ionds bezahlen kann. Natürlich müs¬ sen die Kollektionen entweder gekauft oder an den Verlag zurückgesendet werden. Bei einer einzigen Aussen- cung an die in Frage kommenden grö¬ ßeren Betriebe werden oft mehr als 10.000 Bücher und Broschüren ver¬ schickt. Es läßt sich leicht ausrechnen, daß der nicht auf Gewinn aufgebaute Verlag des OGB diese Kollektionen nicht verschenken kann. Vor kurzem schrieb nun ein Be¬ triebsrat mit anerkennenswerter Offen¬ heit einen Brief an den Verlag: „Ich möchte die Frage stellen, ob ich die Bücher zurückschicken soll oder ob ich sie als Betriebsrat behalten kann. Geld kann ich dafür keines auslegen, denn wir haben eine Betriebsfeier ge¬ habt, und da ist die Betriebsratskasse fast entleert." Der Betriebsratsfonds ist eine sehr zweckdienliche Einrichtung. Auch eine gemütliche Betriebsfeier hat sehr viel für sich. Eine reichhaltige Betriebs¬ ratsbibliothek ist ebenfalls sehr nütz- lich, und neue Bücher für die Werk¬ bibliothek bringen der Belegschaft im¬ mer viel Freude. Nur eine leere Be¬ triebsratskasse ist ausgesprochen un¬ angenehm, denn ohne Geld gibt es „ka Musi" für die Betriebsfeier und leider auch keine Bücher für die Bibliotheken. Was man dagegen machen kann? Wenn der Sinn einer Betriebsratskasse nicht verlorengehen soll, muß ein Be¬ triebsrat mit dem Fonds so haushalten wie eine Hausfrau mit dem Wirt¬ schaftsgeld. Was wir zu der Liberalisierung sagen Unter dem Begriff „Liberalisierung" vollzieht sich seit ungefähr zwei Jah¬ ren ein wichtiger Schritt zur europäischen Integration. Die Grenzen der OEEC-Staaten (das sind alle europäischen Staaten mit Ausnahme der des Ost¬ blocks sowie mit Ausnahme von Finnland, Spanien und Jugoslawien) wer¬ den für einen freizügigen Warenverkehr geöffnet. Die seit dem zweiten Welt¬ krieg übliche Methode der Einfuhrverbote und Einfuhrkontingentierungen wird immer mehr abgeschafft. Österreich hat erstmalig am 1. Juli 1953 eine bescheidene Teilliberalisie¬ rung vorgenommen. Bis dahin war Österreich, als Land mit nicht ge¬ nügend konsolidierter Wirtschafts¬ lage, genötigt, eine strenge Einfuhr- kontrolle und Devisenbewirtschaftung aufrechtzuerhalten. Jeder einzelne Importantrag mußte — von gering¬ fügigen Ausnahmen abgesehen — so¬ wohl vom Handelsministerium (Ein¬ fuhrlizenz) als auch von der National¬ bank (Devisenzuteilung) bewilligt wer¬ den. Der ersten Liberalisierungsphase die sich relativ reibungslos vollzog, folgte Mitte Dezember vorigen Jah¬ res eine zweite. Durchschnittliche Zollbelastung in Prozenten des Warenwertes. Wie man sieht, hat Österreich noch immer ein hohes Zollniveau. Die Statistik wider¬ legt klar alle gegenteiligen Be¬ hauptungen. Seither hat Österreich zirka die Hälfte seiner Einfuhr aus den OEEC-Staaten liberalisiert. Dabei ist zu berücksichtigen, daß ungefähr zwei Drittel unserer Importe aus dieser Staatengruppe stammen. Die günstige Zahlungsbilanz — Öster¬ reichs Guthaben im Rahmen der Europäischen Zahlungsunion (EZU) hat sich auf fast 100 Millionen Dol¬ lar erhöht — zwingt uns zu weite¬ ren Liberalisierungen. Ein durch die Präsidenten der Kam¬ mern, des Gewerkschaftsbundes und der Nationalbank erweitertes wirt¬ schaftliches Ministerkomitee beschloß Anfang Jänner 1954, per 1. März 1954 eine sechzigprozentige Liberalisierung durchzuführen. Im Laufe des ersten Halbjahres 1954 sollen darüber hinaus weitere Liberalisierungsmaßnahmen ergriffen werden. Obwohl diese Entscheidung im Hin¬ blick auf die günstige Zahlungsbilanz¬ situation zu erwarten war, hat sie in industriellen und landwirtschaftlichen Kreisen größte Aufregung hervorge¬ rufen. Entgegen dem vielfach abgeleg¬ ten Lippenbekenntnis zur „Freien Wirtschaft" fürchten nämlich diese Kreise nichts so sehr, als einen wirk¬ lich freien Wettbewerb. Selbst das Dogma von der „Nichteinmischung des Staates in wirtschaftliche Fragen" wird fallen gelassen. Im Gegenteil: Man fordert vom Staat, daß er die durch die ausländische Konkurrenz gefährdeten Praktiken der inländi¬ schen Monopole und Kartelle durch möglichst prohibitive Zölle schützt. Jede einzelne Wirtschaftssparte hat durch ihren Fachverband eine „ent¬ sprechende" Zolltarifnovelle aus¬ arbeiten lassen. Die Verwirklichung dieser Pläne soll die Aufrechterhaltung eines über¬ höhten inländischen Preisniveaus er¬ möglichen. Die österreichischen Pro¬ duzenten wollen weiterhin nach dem Grundsatz „kleiner Umsatz — große Rentenversicherungsbeiträge nachentrichten! Am 1. April 1952 ist das Erste Sozialversicherungs - Neuregelungsge¬ setz (1. SV-NG.) in Kraft getreten. Gemäß § 31 dieses Gesetzes können Arbeiter und Angestellte und auch Personen, die nicht mehr in Beschäfti¬ gung stehen, unter gewissen Voraus¬ setzungen Beiträge zur Invaliden- (Ar¬ beiter-), Angestellten- oder Bergarbei¬ terversicherung nachentrichten. Diese Möglichkeit soll Härten, die sich aus der Aufhebung der „ewigen Anwart¬ schaftswahrung" durch dasselbe Gesetz ergeben, ausgleichen. Im Höchstfall können für drei Jahre (156 Wochenbeiträge = 36 Monatsbeiträge) Versicherungszeiteil erworben werden. Davon zählen jedoch nur zwei Jahre (104 Wochen¬ beiträge = 24 Monatsbeiträge) für die Erfüllung der Wartezeit. Der restliche Jahresbeitrag wird aber für die Anrechnungsfähigkeit der Versicherungszeiten (Halb- und Drit¬ teldeckung) gewertet. Für die Be¬ messung der Leistung (Rentenhöhe) zählen alle drei Jahresbeiträge. In der Invalidenversicherung kann man einen Wochenbeitrag für 7 Schil¬ ling, in der Angestelltenversicherung einen Monatsbeitrag für 30 Schilling und in der Bergarbeiterversicherung einen Monatsbeitrag für 37 Schilling erwerben. Die Summe der möglichen Nachentrichtung beträgt in der Inva¬ lidenversicherung 1092. Schilling (156 Wochenbeiträge zu 7 Schilling), in der Angestelltenversicherung 1080 Schil¬ ling (36 Monatsbeiträge zu 30 Schil¬ ling) und in der Bergarbeiterversiche- rung 1332 Schilling (36 Monatsbeiträge zu 37 Schilling). Die Nachversicherung kann nur für »ach dem 31. Dezember 1938 gelegene Zeiträume vorgenommen werden, und zwar lediglich für Zeiten, in denen bisher keine Beiträge auf Grund der Versicherungspflicht (Beschäftigung) oder auf Grund der Versicherungs¬ berechtigung (Selbstversicherung oder freiwillige Fortsetzung der Versiche¬ rung) entrichtet wurden. Das Recht zur Nachentrichtung be¬ sitzen alle Personen, die in der Zeit vom 1. Jänner 1939 bis zum 31. März 1952 mindestens 26 Beitragswochen in der Invalidenversicherung oder sechs Beitragsmonate in der Angestellten¬ oder in der Bergarbeiterversicherung erworben haben. Außerdem können jene Personen gemäß § 31 des 1. SV- NG. von der Möglichkeit der Nach¬ entrichtung Gebrauch madren, die nach den vor dem Inkrafttreten des 1. SV-NG., also nach den bis zum 31. März 1952 gültig gewesenen ein¬ schlägigen Bestimmungen der Reichs¬ versicherungsordnung eine Mindest¬ beitragszeit von 260 anrechenbaren Wochen in der Invalidenversicherung oder 60 anrechenbaren Monaten in der Angestellten- oder in der Berg¬ arbeiterversicherung nach weisen. Die Vorschriften über die Warte¬ zeit und über die Anredrenbarkeit von Beiträgen in der Rentenversiche¬ rung nach der Reichsversicherungs¬ ordnung und nach dem 1. SV-NG. sind im Heft Nr. 36 der im Verlag des ÖGB erschienenen Broschüre „Die In¬ validenversicherung" ersichtlich. Die Nachentiichtung muß bis längstens 30. Juni 1954 beim zu¬ ständigen Versicherungsträger bean¬ tragt werden. Nach diesem Termin besteht keine Möglichkeit mehr, die (Fortsetzung auf Seite 3) Spannen“ den österreichischen Kon¬ sumenten ausbeuten und auf ihre über¬ mäßigen Gewinne nicht verzichten. Die Stärkung der Kaufkraft der Kon¬ sumenten ist aber der Hauptvorteil der Liberalisierung. Nur wenn durch die Liberalisierung eine wesentliche Senkung des inländischen Preisniveaus eintritt, kann die sich daraus er¬ gebende Erhöhung des Realeinkom¬ mens gewisse beschäftigungspolitisehe Schwierigkeiten kompensieren. Sicherlich wird es einzelnen Betrie¬ ben schwerfallen, gegen die auslän¬ dische Konkurrenz zu bestehen. So¬ fern die Rationalisiemngsmöglich- keiten voll ausgeschöpft und die Ge¬ winnspannen auf ein Minimum ge¬ senkt wurden, wird man dort, wo mäßige Schutzzölle noch fehlen, solche in Erwägung ziehen können. Man muß sich aber dabei bewußt sein, daß Schutzzölle zugunsten un¬ rationell produzierender Betriebe die Weiterverarbeiter zwingen, über¬ höhte Preise zu zahlen. Die weiterverarbeitenden Betriebe werden dadurch in ihrer Konkurrenz¬ fähigkeit, vor allem aber in ihrer Exportfähigkeit beeinträchtigt. Die Erfahrungen der dreißiger Jahre haben jedenfalls gezeigt, daß eine all¬ gemein angewandte Hochschutzzoll¬ politik die Arbeitsplätze nicht zu sichern vermag. Im Gegenteil, die im Schutze hoher Zölle angewandte Preis¬ politik schmälerte das Realeinkom¬ men der breiten Masse der Arbeiter und Angestellten, wovon der Inlands¬ absatz unserer Industrieerzeugnisse besonders betroffen war. Man muß sich schließlich auch im klaren sein, daß eine so auslands¬ abhängige Volkswirtschaft wie die österreichische nicht nach dem Grundsatz handeln kann: exportie¬ ren — ja, importieren — nein. Un¬ sere Vertragspartner würden sich eine derartige Politik wohl kaum lange gefallen lassen, zumindest dann nicht, wenn Öster¬ reich Wert darauf legt, nicht nur Roh¬ stoffe (Holz), sondern auch vor allem Fertigwaren zu exportieren. Die bevorstehende Liberalisierung wird möglicherweise innerösterreichi¬ sche Zollverhandlungen über die Neugestaltung von Zollsätzen bei ein¬ zelnen Positionen nach sich ziehen. Bei diesen Verhandlungen wird es. not¬ wendig sein, die Interessen der Pro¬ duzenten mit den Wünschen der Wei¬ terverarbeiter und insbesondere auch der Letztverbraucher in Einklang zu bringen. IlberalisierT Portugal Holland nicht liberalisiert Das ist der Stand der Liberalisierung in 'Österreich gegenüber anderen euro¬ päischen Staaten. Ab März 1954 wird sich die Liberalisierungsquote in Öster¬ reich auf 60 Prozent erhöhen. Von der österreichischen Indu¬ strie und Landwirtschaft muß jeden¬ falls erwartet werden, daß sie die größten Anstrengungen unterneh¬ men, um ohne staatliche Interven¬ tionsmaßnahmen im internationalen Wettbewerb zu bestehen. Nur wenn es gelingt, den weit über¬ wiegenden Teil der österreichischen Industrie international konkurrenz¬ fähig zu machen, kann Österreich den Integrationsbestrebungen Europas mit Ruhe entgegensehen. Seite 2 Nr. 208 SOLIDARITÄT
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