Full text: Solidarität - Jänner 1954, Heft 208 (208)

„MM'-unkt Vmiadt waren ganz erstaunt, daß nicht nur ein Kriminalfilm interessant und spannend sein kann. „Was sagst, Mitzi", sagt ein junger Mann am Ende der Vorstellung zu seiner Be¬ gleiterin, „das war schöner wie a Wildwester." ‘In Stadlau, in Liesing, in Florids¬ dorf, überall die gleiche Begeiste¬ rung. Im Arbeiterheim, im Kino, im Ballsaal. Fachkundige Künstler¬ hände zaubern eindrucksvolle Büh¬ nenbilder, wendige Regisseure und überragende Darsteller geben den Dichtungen Leben und Gestalt. „Helden" von Shaw, „Der Biber¬ pelz" von Hauptmann, „Tartuffe" von Moliere und Schillers „Kabale und Liebe" werden bis April dieses Jahres in zwölf Vorstadtbezirken aufgeführt. Die Eintrittspreise sind, dank der Subvention der Wiener Arbeiterkammer, nicht höher als die Preise der Kinokarten, also für jedermann erschwinglich. „Das letzte Theaterstück hab' ich vor 40 Jahren bei die Künstler in der Sommaarena g'sehn", erzählt uns ein altes Simmeringer Mutterl nach der Vorstellung. Sie kann es gar nicht glauben, daß es schon aus ist. Und als die Leute endlich nach dem x-ten Vorhang lang¬ sam aufbrechen, steht sie immer noch vor der Bühne und klatscht mit ihren zerfurchten Arbeitshän¬ den begeistert Beifall. * Eigentümer. Herausgeber und Verleger: Öster¬ reichischer Gewerkschaftsbund, Redaktion: Fritz Klenner und Franz Nekula. Verantwort¬ licher Redakteur: Karl Franta. Für die Bild¬ beilage verantwortlich: Fritz Konir. Gestaltung der Bildbeilage: August Makart. Alle Wien, I.. Hohenstaufengasse 10—12. Drude: Wald- heim-Eberle. Wien, VII., Seidengasse 3—11. Bernard Shaw in Simmering Ein etwas blechern klingender Gongschlag läßt das erwartungs¬ volle Gemurmel in dem vollbe¬ setzten Brauhaussaal verstummen. Der erste Akt von Bernard Shaws vergnüglicher Komödie „Helden" beginnt. Mit meisterhafter Routine überbrücken die Schauspieler die' mäßiggute Akustik in dem hohen Saal. Schon nach einigen Minuten haben sie die Zuschauer aus der phantasielosen Nüchternheit des kahlen Raumes in die bunte Welt der Komödie entführt. So blutvoll und lebendig die Darsteller ihre Rollen verkörpern, so begeistert und aus dem Herzen kommend schlägt ihnen der Ap¬ plaus des Publikums entgegen. Als im dritten Akt der Schweizer Hauptmann Bluntschli, eine der Hauptfiguren des Stückes, von der Bühne ruft: „Ich habe die höchste Stelle, die die Schweiz zu ver¬ geben hat, ich bin ein freier Bür¬ ger!", da durchtost eine Welle des Beifalls den Saal. Die Arbeiter und Angestellten von Wien mit seiner vierfachen Besetzung fühlen die tiefe, ewige Wahrheit dieses Satzes. Nicht nur die Zuschauer sind begeistert, auch den Schauspielern macht ihre neue Aufgabe — große Kunst in die Vorstadt zu tragen — sichtliche Freude. Sie verlieren ihre gute Laune auch in den dürftigsten Umkleideräuinen nicht, und das Publikum dankt ihnen dafür aus ganzem Herzen. Die Aufführung mußte außer dem Programm wiederholt werden. Es gab zu viele Stadlauer, die beim besten Willen nicht mehr in den Festsaal des Franz-Novy- Heimes unterzubringen waren. Den Stadlauern ist es unmöglich, in Wien eine Abendvorstellung in einem Theater oder Kino zu besuchen, ohne kilometerlange Fußmärsche zurückzulegen. Aue junge Menschen haben „dort unten" noch keine richtige Theatervorstellung erlebt; sie send". Immer mehr füllen sich die Sitzreihen der Musentempel mit Arbeitern und Angestellten. Und dort, wo der Prophet nicht zum Berg kommen kann, wird der Berg zum Propheten kommen. Ein Thea¬ ter auf Rädern; es kommt in die Vorstadt und aufs Land und kommt damit seiner Berufung am näch¬ sten. Es wird zum richtigen oflfotfeater Obwohl ein grelles Plakat einen Schlagerfilm mit dem vielverspre¬ chenden Titel: „Geh, mach dein Fensterl auf" ankündigt, ist das kleine Vorstadtkino halb leer. Die Tafel mit dem Zauberwort „Aus¬ verkauft" hängt heute vor einer an¬ deren Kasse. Drüben, im großen Brauhaussaal, wird Theater ge¬ spielt. Die langen Biertische, auf die sonst beim Preisschnapsen so mancher saftige „Zwanzger" hinge¬ knallt wird, sind weggeräumt. An ihrer Stelle stehen 800 Stühle, und auf diesen Stühlen sitzen 800 Men¬ schen und harren mit sichtlicher Spannung der Dinge, die da kom¬ men sollen. In diesem improvisierten Thea¬ tersaal gibt es keine plüschüber¬ zogenen Cerclesitze und keine goldstrotzenden Balkonlogen. Die Menschen im Parkett tragen keine gesteiften Frackhemden oder rückenfreie Abendroben. Hier sitzen saubergekleidete,' einfache Arbeiter und Angestellte, die nach den Mühen des Tagwerkes in der großen Kunst des Theaters Freude, Entspannung und geistige Anre¬ gung suchen. „Volkstheater“ auf Wanderschaft Unsere Bilder zeigen Szenen bei einer Theateraufführung in Liesing. Alt und jung strömte herbei, um endlich wieder gutes Theater zu sehen. Für viele Liesinger war es das erstemal im Leben. aufgeführt. Zehntausende Arbeiter und Angestellte, denen aus fahr¬ technischen Gründen ein Theater¬ besuch bisher versagt blieb, sehen nun — oft zum erstenmal im Leben — das wirklich „große Thea¬ ter". Ein faszinierender Gedanke und ein voller Erfolg! Theater — längst kein Privileg mehr für die „oberen Zehntau- Vortragszyklen, konstenlose Fahr¬ gelegenheiten in die Kulturzentren, Exkursionen und berufliche Schu¬ lungen zeugen von der planmäßi¬ gen Kulturarbeit in allen Bundes¬ ländern. Die Arbeiterkammer Wien, zum Beispiel, hat das Volkstheater¬ ensemble auf Reisen geschickt. Vier Monate hindurch werden nun in den Wiener Vorstadtbezirken von erstrangigen Darstellern literarisch wertvolle Theaterstücke Premiere in Stadlau Die erste Aufführung des Volks¬ theaterensembles in Stadlau, das ist im 22. Wiener Bezirk, gestal¬ tete sich zu einem richtigen „ge¬ sellschaftlichen" Ereignis. Die Theaterkritiker der gesamten Wie¬ ner Presse waren erschienen, und der vollbesetzte Autobus mit den „Zeitungsleuten" erregte in den „enteren Gründen" berechtigtes Aufsehen. Die neun Arbeiterkammern in Österreich haben sich über ihre sozialen und wirtschaftlichen Auf¬ gaben hinaus eine große Verpflich¬ tung auferlegt. Sie wollen den Ar¬ beitern und Angestellten helfen, ihre in schweren Kämpfen errun¬ gene Freizeit auch richtig zu nützen. Sie wollen sie hinausfüh¬ ren aus der deprimierenden Be¬ engtheit rauchtrüber Vorstadtknei¬ pen, aus der entmutigenden Hohl¬ heit oberflächlicher Vergnügungen. Sie wollen, daß die arbeitenden Menschen in Stadt und Land aus einem gut verwendeten Feierabend neue Lebensfreude schöpfen. Sie wollen ihnen die Kulturgüter der Welt erschließen, die unserem Le¬ benswerk erst Form und Inhalt geben. Und es gelingt ihnen! Hundert¬ tausende Arbeiter und Angestellte werden von den Arbeiterkammern kulturell betreut. Künstlerische Veranstaltungen, wissenschaftliche Seite 4 Nr. 208 SOLIDARITÄT
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