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ARBEIT UND WIRTSCHAFT
ihre eigenen Kräfte herauszuholen und sie so
zu selbständigem Leben fähig zu machen. Die Wasser¬
kräfte sind einer der wenigen Aktivposten, die das
blutleere Österreich besitzt. Sie auszubauen ist die
erste, wichtigste, natürlichste, selbstverständlichste
Pflicht jeder österreichischen Regierung. Anderswo
begreift man den Wert der weißen Kohle sehr
genau, denn auch in den kohlenreichen Ländern Eng¬
land und Frankreich elektrifiziert man die Bahnen,
freilich hier hauptsächlich, um Gelegenheit zu Not¬
standsarbeiten zu haben, da doch diese kohlenreichen
Länder nicht gerade ihre Finanzen bedroht sehen,
wenn ihre Bahnen nicht schon morgen elektrisch ge¬
zogen werden. Die kohlenarme Schweiz hat ihr
ursprünglich auf zehn Jahre berechnetes Bau¬
programm sogar auf fünf Jahre herabgesetzt und
gibt gegenwärtig 7 8 • 8 Millionen Franken
(Ii Billionen österreichische Kronen) jährlich für
die Umwandlung ihrer Bahnen auf elektrische Zugs¬
förderung aus. Für uns bedeutete diese Umwandlung
eine größere Unabhängigkeit von auswärtigenVerwicklungen (man denke nur an die Ruhrbesetzung und die
Tatsache, daß eine Zeitlang jede Unstimmigkeit
irgendwo in der Welt eine Störung in unserem Zugs¬
verkehr bewirkt hat), zweitens eine größere Unab¬
hängigkeit von Valutadifferenzen des Auslandes,
drittens von handelspolitischen Maßnahmen des Aus¬
landes (man denke nur an die 40prozentige Kolilensteuer der Tschechoslowakei) und viertens eine
größere Beschäftigung unserer Industrie samt an¬
hängiger Verringerung der Arbeitslosigkeit. Vor allem
aber würde es eine wesentliche Verbilligung unserer
Betriebsausgaben, eine Herabsetzung unseres Bundes¬
bahn- und damit des Staatsdefizits und daher ein
wesentliches Mittel zur wirklichen Sanierung dar¬
stellen.
Nun wurde unter der Regierung Renner im Jahre
1920 das bekannte Gesetz zur Elektrifizierung eines
Teiles der Bundesbahnen geschaffen. Wäre dieses
Gesetz durchgeführt worden, so könnten wir anfangs
1925 bereits von Salzburg bis Bregenz, von Attnang
nach Stainach und von Schwarzach-St. Veit nach
Villach elektrisch fahren, und schon heuer, im Jahre
1923, wäre die erste Strecke von Innsbruck bis
Bregenz elektrifiziert. Die Regierungen nach Renner
haben nun das Gesetz so durchgeführt, daß die Fertig¬
stellung des Bauprogramms statt in 5 Jahren frühestens
in 10 Jahren möglich erscheint, also genau das Um¬
gekehrte wie in der Schweiz, obwohl doch für uns die
Elektrifizierung noch eine ganz andere Bedeutung ha_t
als für jene.
Die Ursache dieses niederdrückenden Ergebnisses
liegt in der Budget- und Finanzpolitik der Regierungen
nach Renner. Die Bürokratie des Finanzministeriums
hat von Anfang an das ganze Gesetz mißgünstig be¬
handelt und einige verkalkte Sektionschefs haben
die Urheber dieses Gesetzes, also vor allem den Ver¬
fasser dieses Artikels, geradezu als Schädlinge an der
Republik bezeichnet. Sie meinten nämlich, die Auf¬
wendung so großer Summen bedeute eine Inflation in
so hohem Grade, daß dadurch die Gesamtvolkswirt¬
schaft zu schwer benachteiligt würde. Nun ist natür¬
lich niemand Vernünftiger für eine Inflation, im vor¬
liegenden Falle aber muß von der schablonenhaften
Betrachtung abgesehen und der volkswirtschaftliche
Nachteil der Geldentwertung mit den volkswirtschaft¬
lichen Vorteilen der früheren Elektrifizierung ver¬
glichen werden, um zu einem richtigen Urteil zu ge¬
langen.
Stellen wir uns den theoretischen Fall vor, die fünf
Milliarden wären damals sofort beigestellt, zu diesem
Zwecke die Banknotenpresse in Anspruch genommen
und die Papierkronen in einer wertbeständigen Wäh¬
rung angelegt worden. Unser heutiger StaatsschuldenS'tand beträgt 14-8 Billionen Kronen. Er würde dann
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nach dieser Transaktion 14-805 Billionen, also um
fünf Tausendstelbillionen mehr betragen.
Niemand wird im Ernst behaüpten wollen, daß
dieser minimale Unterschied irgendwie ins Gewicht
fiele. Fünf Milliarden beträgt heute beinahe das jähr¬
liche Gehalt des Generalkommissärs allein! Die •
Ausgaben für Musealwesen (6'8 Milliarden), für die
Direktion der Bundesgärten (6-8 Milliarden), für
militärische Lehrwerkstätten (6'7 Milliarden) be¬
tragen pro Jahr heute mehr, als der ganze Elektrifi¬
zierungsbau für ewig gekostet hätte. Dieser Betrag
würdle heute im Staatsschuldenkonto also bei¬
nahe verschwinden. Anderseits aber würde die
Kohlenersparnis dhrch die mit jenem Betrag bewerk¬
stelligte
Elektrifizierung
samt Zuführungskosten
400.000 Tonnen, das ist zum heutigen Kohlenpreis
(1000 K pro Kilogramm) 400 Milliarden betragen.
Hievon wären, da sich die übrigen Mehrkosten der
Elektrifizierung (Erhaltung und Erneuerung der Kraftund Leitungsahlagen) gegen die der Dampftraktion
(Lokomotiverneuerung,
Heizhauspersonal
usw.)
gegenseitig aufwiegen, die Kosten der Verzinsung des
Anlagekapitals, das ist 200 Millionen, abzuziehen. Man
hätte also eine reine Ersparnis von 400.000 Millionen
weniger 200 Millionen = 399'8 Milliarden! (Schon an
dieser unbedeutenden Differenz allein ist die Gering¬
fügigkeit jener finanziellen Belastung zu erkennen.)
Unser Bundesbahndefizit wird von der Regierung mit
1'3 Billionen angegeben. Wenn dies wahr ist, so würde
die Wirkung jener volkswirtschaftlich so „schäd¬
lichen" Maßnahme der Durchführung des Elektri¬
fizierungsgesetzes einen Abbau des Bundesdefizits um
beinahe ein volles Drittel bedeuten, es würde auf
900 Millionen herabsinken. Wir fragen: Was kostet
den Staat mehr, die Inflation um fünf Milliarden,
die uns mit 200 Millionen Zinsen belastet hätte, oder
die Unterlassung des Ausbaues der Bahnwasserkräfte,
also die Unterlassung der Inflation, die uns 4 0 0 Mil¬
liarden Mehrdlefizit auf den Hals lädt? Jeder Schul¬
knabe wird den Bundeshämorrhoidariern des Finanz¬
ministeriums darauf die richtige Antw.ort. geben
können.
Wir haben das Beispiel absichtlich mit aller Schärfe
herausgearbeitet, um die ganze grobe Schematizität
des finanzministeriellen Denkens darzulegen, und
kennen die Einwände jedoch sehr genau, die
höchstens die Ziffern ein wenig korrigieren, nicht aber
das Wesentliche daran, den enormen volkswirtschaft¬
lichen Schaden, entkräften können. Der Nationalrat
selbst hat hierin, ohne Unterschied der Partei, den
richtigen Weg befolgt: er hat immer wieder ein¬
stimmig betont, daß er das Baüprogramm
durchgeführt sehen wolle, daß daher die Ziffern
des Budgets sich,
wenn eine Geldentwertung
eintritt, dem Programm fügen müssen, nicht umge¬
kehrt. Aber das Finanzministerium hat diese ein¬
stimmigen Beschlüsse des Hauses immer wieder
sabotiert und es muß festgestellt werden, daß in
diesem Dauerkampf schließlich der Nationalrat unter¬
legen ist und die verknöcherte Bürokratie gesiegt hat.
Haben wir bisher den Fall theoretisch wie ein
physikalisches Laboratoriumsexperiment in seiner
ganzen Schärfe herausgemeißelt und dabei einige
Korrekturen, die diie Praxis daran vornimmt, ver¬
nachlässigen müssen, so wollen Wir die Hirnrissigkeit
der Elektrifiizierungspolitik des Finanzministeriums
nunmehr an einem praktischen Beispiel erläutern.
Bis Ende 1920 wurden für die Elektrifizierung der
Bahnen 262, im Jahre 1921 1700 Millionen Kronen,
zusammen 1962 Millionen oder rund zwei Milliarden
ausgegeben. Wäre dem Beschluß des Nationalrates
nachgekommen worden, wonach das Bau Pro¬
gramm für die Ausgaben maßgebend^ zu sein habe,
so wäre das Doppelte, also vier Milliarden in diesen
anderthalb Jahren ausgegeben worden, das heißt, es