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Full text: Arbeit & Wirtschaft - 1923 Heft 11 (11)

349 ARBEIT UND WIRTSCHAFT ihre eigenen Kräfte herauszuholen und sie so zu selbständigem Leben fähig zu machen. Die Wasser¬ kräfte sind einer der wenigen Aktivposten, die das blutleere Österreich besitzt. Sie auszubauen ist die erste, wichtigste, natürlichste, selbstverständlichste Pflicht jeder österreichischen Regierung. Anderswo begreift man den Wert der weißen Kohle sehr genau, denn auch in den kohlenreichen Ländern Eng¬ land und Frankreich elektrifiziert man die Bahnen, freilich hier hauptsächlich, um Gelegenheit zu Not¬ standsarbeiten zu haben, da doch diese kohlenreichen Länder nicht gerade ihre Finanzen bedroht sehen, wenn ihre Bahnen nicht schon morgen elektrisch ge¬ zogen werden. Die kohlenarme Schweiz hat ihr ursprünglich auf zehn Jahre berechnetes Bau¬ programm sogar auf fünf Jahre herabgesetzt und gibt gegenwärtig 7 8 • 8 Millionen Franken (Ii Billionen österreichische Kronen) jährlich für die Umwandlung ihrer Bahnen auf elektrische Zugs¬ förderung aus. Für uns bedeutete diese Umwandlung eine größere Unabhängigkeit von auswärtigenVerwicklungen (man denke nur an die Ruhrbesetzung und die Tatsache, daß eine Zeitlang jede Unstimmigkeit irgendwo in der Welt eine Störung in unserem Zugs¬ verkehr bewirkt hat), zweitens eine größere Unab¬ hängigkeit von Valutadifferenzen des Auslandes, drittens von handelspolitischen Maßnahmen des Aus¬ landes (man denke nur an die 40prozentige Kolilensteuer der Tschechoslowakei) und viertens eine größere Beschäftigung unserer Industrie samt an¬ hängiger Verringerung der Arbeitslosigkeit. Vor allem aber würde es eine wesentliche Verbilligung unserer Betriebsausgaben, eine Herabsetzung unseres Bundes¬ bahn- und damit des Staatsdefizits und daher ein wesentliches Mittel zur wirklichen Sanierung dar¬ stellen. Nun wurde unter der Regierung Renner im Jahre 1920 das bekannte Gesetz zur Elektrifizierung eines Teiles der Bundesbahnen geschaffen. Wäre dieses Gesetz durchgeführt worden, so könnten wir anfangs 1925 bereits von Salzburg bis Bregenz, von Attnang nach Stainach und von Schwarzach-St. Veit nach Villach elektrisch fahren, und schon heuer, im Jahre 1923, wäre die erste Strecke von Innsbruck bis Bregenz elektrifiziert. Die Regierungen nach Renner haben nun das Gesetz so durchgeführt, daß die Fertig¬ stellung des Bauprogramms statt in 5 Jahren frühestens in 10 Jahren möglich erscheint, also genau das Um¬ gekehrte wie in der Schweiz, obwohl doch für uns die Elektrifizierung noch eine ganz andere Bedeutung ha_t als für jene. Die Ursache dieses niederdrückenden Ergebnisses liegt in der Budget- und Finanzpolitik der Regierungen nach Renner. Die Bürokratie des Finanzministeriums hat von Anfang an das ganze Gesetz mißgünstig be¬ handelt und einige verkalkte Sektionschefs haben die Urheber dieses Gesetzes, also vor allem den Ver¬ fasser dieses Artikels, geradezu als Schädlinge an der Republik bezeichnet. Sie meinten nämlich, die Auf¬ wendung so großer Summen bedeute eine Inflation in so hohem Grade, daß dadurch die Gesamtvolkswirt¬ schaft zu schwer benachteiligt würde. Nun ist natür¬ lich niemand Vernünftiger für eine Inflation, im vor¬ liegenden Falle aber muß von der schablonenhaften Betrachtung abgesehen und der volkswirtschaftliche Nachteil der Geldentwertung mit den volkswirtschaft¬ lichen Vorteilen der früheren Elektrifizierung ver¬ glichen werden, um zu einem richtigen Urteil zu ge¬ langen. Stellen wir uns den theoretischen Fall vor, die fünf Milliarden wären damals sofort beigestellt, zu diesem Zwecke die Banknotenpresse in Anspruch genommen und die Papierkronen in einer wertbeständigen Wäh¬ rung angelegt worden. Unser heutiger StaatsschuldenS'tand beträgt 14-8 Billionen Kronen. Er würde dann 350 nach dieser Transaktion 14-805 Billionen, also um fünf Tausendstelbillionen mehr betragen. Niemand wird im Ernst behaüpten wollen, daß dieser minimale Unterschied irgendwie ins Gewicht fiele. Fünf Milliarden beträgt heute beinahe das jähr¬ liche Gehalt des Generalkommissärs allein! Die • Ausgaben für Musealwesen (6'8 Milliarden), für die Direktion der Bundesgärten (6-8 Milliarden), für militärische Lehrwerkstätten (6'7 Milliarden) be¬ tragen pro Jahr heute mehr, als der ganze Elektrifi¬ zierungsbau für ewig gekostet hätte. Dieser Betrag würdle heute im Staatsschuldenkonto also bei¬ nahe verschwinden. Anderseits aber würde die Kohlenersparnis dhrch die mit jenem Betrag bewerk¬ stelligte Elektrifizierung samt Zuführungskosten 400.000 Tonnen, das ist zum heutigen Kohlenpreis (1000 K pro Kilogramm) 400 Milliarden betragen. Hievon wären, da sich die übrigen Mehrkosten der Elektrifizierung (Erhaltung und Erneuerung der Kraftund Leitungsahlagen) gegen die der Dampftraktion (Lokomotiverneuerung, Heizhauspersonal usw.) gegenseitig aufwiegen, die Kosten der Verzinsung des Anlagekapitals, das ist 200 Millionen, abzuziehen. Man hätte also eine reine Ersparnis von 400.000 Millionen weniger 200 Millionen = 399'8 Milliarden! (Schon an dieser unbedeutenden Differenz allein ist die Gering¬ fügigkeit jener finanziellen Belastung zu erkennen.) Unser Bundesbahndefizit wird von der Regierung mit 1'3 Billionen angegeben. Wenn dies wahr ist, so würde die Wirkung jener volkswirtschaftlich so „schäd¬ lichen" Maßnahme der Durchführung des Elektri¬ fizierungsgesetzes einen Abbau des Bundesdefizits um beinahe ein volles Drittel bedeuten, es würde auf 900 Millionen herabsinken. Wir fragen: Was kostet den Staat mehr, die Inflation um fünf Milliarden, die uns mit 200 Millionen Zinsen belastet hätte, oder die Unterlassung des Ausbaues der Bahnwasserkräfte, also die Unterlassung der Inflation, die uns 4 0 0 Mil¬ liarden Mehrdlefizit auf den Hals lädt? Jeder Schul¬ knabe wird den Bundeshämorrhoidariern des Finanz¬ ministeriums darauf die richtige Antw.ort. geben können. Wir haben das Beispiel absichtlich mit aller Schärfe herausgearbeitet, um die ganze grobe Schematizität des finanzministeriellen Denkens darzulegen, und kennen die Einwände jedoch sehr genau, die höchstens die Ziffern ein wenig korrigieren, nicht aber das Wesentliche daran, den enormen volkswirtschaft¬ lichen Schaden, entkräften können. Der Nationalrat selbst hat hierin, ohne Unterschied der Partei, den richtigen Weg befolgt: er hat immer wieder ein¬ stimmig betont, daß er das Baüprogramm durchgeführt sehen wolle, daß daher die Ziffern des Budgets sich, wenn eine Geldentwertung eintritt, dem Programm fügen müssen, nicht umge¬ kehrt. Aber das Finanzministerium hat diese ein¬ stimmigen Beschlüsse des Hauses immer wieder sabotiert und es muß festgestellt werden, daß in diesem Dauerkampf schließlich der Nationalrat unter¬ legen ist und die verknöcherte Bürokratie gesiegt hat. Haben wir bisher den Fall theoretisch wie ein physikalisches Laboratoriumsexperiment in seiner ganzen Schärfe herausgemeißelt und dabei einige Korrekturen, die diie Praxis daran vornimmt, ver¬ nachlässigen müssen, so wollen Wir die Hirnrissigkeit der Elektrifiizierungspolitik des Finanzministeriums nunmehr an einem praktischen Beispiel erläutern. Bis Ende 1920 wurden für die Elektrifizierung der Bahnen 262, im Jahre 1921 1700 Millionen Kronen, zusammen 1962 Millionen oder rund zwei Milliarden ausgegeben. Wäre dem Beschluß des Nationalrates nachgekommen worden, wonach das Bau Pro¬ gramm für die Ausgaben maßgebend^ zu sein habe, so wäre das Doppelte, also vier Milliarden in diesen anderthalb Jahren ausgegeben worden, das heißt, es
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