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ARBEIT UND WIRTSCHAFT
Wicklung; seit Kriegsende. Mit einem wirkungsvollen Appell
an die internationale Aktion der Arbeiterschaft, welche allein
den Ausweg aus dem Chaos der Gegenwart weisen kann,
schließt Kautskys tiefschürfende Arbeit, die besonders für
Betriebsräte und Gewerkschaftsfunktionäre die wertvollen
Dienste eines Lehrkurses der theoretischen Volkswirtschaft
leisten wird.
Weit weniger gelungen ist der Versuch eines Herrn Fer¬
dinand v. Gerhardt, die „Hauptfragen der theoretischen
Volkswirtschaftslehre" auf 63 Seiten in 280 kurzzeiligen
Antworten zu lösen (Verlag Blazek und Bergmann, Frank¬
furt atn Main 1923). Solche Büchelchen mögen höchstens
dem Bedürfnis von Einpaukerschulen und Studenten ent¬
gegenkommen, die möglichst schmerzlos durch die Tücken
und Nücken der Rigorosenprüfungen schlüpfen wollen, aber
ein wirklich tieferes Eindringen in die Probleme der
Nationalökonomie verstatten sie nicht.
Ein recht gedankenvolles Werk stammt wieder aus dem
Verlag E. Laub. Gottfried Salomon hat dortselbst den
Ideengängen eines längst Toten wieder zu frischem Leben
verholfen. Er hat P. J. Proudhons „Bekenntnisse eines
Revolutionärs" in der Ubersetzung von Arnold Rüge her¬
ausgebracht und dazu eine eigene Einleitung geschrieben,
welche die historische Würdigung des Lebens Proudhons
als Politikers und Kämpfers, Publizisten und Philosophen
vornimmt (Berlin 1923, 392 Seiten, Grundzähl 5.50).
Proudhons glänzende Analyse der Revolutionsgeschichte
seiner Zeit wird auch heute noch mit hohem Genuß gelesen
werden.
Einem anderen Großen der Geschichte des Sozialismus ist
Konrad H ä n i s c h'. in Prachtausstattung erschienenes
Werk „Lassalle, Mensch und Politiker" gewidmet (Verlag
Franz Schneider, Berlin-Leipzig-Wien-Bern 1923, 148 Seiten,
mit einem Bildnis Lassalles und 10 Faksimile-Beilagen,
54.000 K). Es ist eine Jubiläumsausgabe aus Anlaß des
60. Jahrestages der Gründung des Allgemeinen Deutschen
Arbeitervereines (23. Mai 1863). Hänisch hat sich die Auf¬
gabe gestellt, der jüngeren sozialistischen Generation das
menschliche und politische Charakterbild des großen Orga¬
nisators der deutschen Arbeiterklasse neu zu gestalten und
das ist ihm wahrlich gelungen. Mit der schon in der Hauptmann-Biographie bewiesenen feinsinnigen Stilkunst führt uns
Hänisch durch alle Höhen und Tiefen des an Sturm und
Bewegtheit, an Kraft und Tatenlust so reichen Leben
Lassalles. Wir begrüßen diese seine neueste Biographie als
eine vorbildliche Werbeschrift für den sozialistischen Ge¬
danken.
Zufällig ist zu ungefähr gleicher Zeit auch die schon vor
zehn Jahren geschriebene Broschüre von Robert D a n n eberg „Karl Marx, der Mann und sein Werk" neu heraus¬
gegeben worden (Volksbuchhandlung, Wien 1923, 64 Seiten,
6000 K). Sie erschien als unveränderter Nachdruck. Die in
ihr enthaltenen Beiträge von Karl K a u t s k y, Leopold
W i n a r s k y, Adelheid Popp, Otto Hahn, Max Adler,
Oswald B i e n, Otto Bauer, Julius Deutsch, Gustav
Eckstein, Anna Schlesinger und Danneberg
selbst geben in populärster Form ein fast erschöpfendes
Bild über Leben und Werk des Großmeisters der sozialisti¬
schen Theorie.
Den geschichtsphilosophischen Gedankenströmen des
Marxschen Geistes ist eine langatmige Aufsatzserie von
Georg Lukdcs zugewandt: Ceschichte und Klassen¬
bewußtsein (Malik-Verlag, Berlin 1923, 343 Seiten). In acht
blutleeren, auch stilistisch matten Essays zerquält sich
Lukäcs mit Studien über marxistische Dialektik. Wer den
frischen, lebendigen und immer originellen Einfallsreichtum
etwa eines Max Adler kennt, der wird mit der blasierten
Langweile des ungarischen Philosophen nur Mitleid haben
können.
Wie man richtig schimpft und spuckt, das mag Herr
Lukäcs seinem Parteikollegen R a d e k abgucken, der diese
Technik sogar in einem kurzen Vorwort, das er einer
Schrift des zu den Kommunisten übergelaufenen A. M a r t ynow: „Vom Menschewismus zum Kommunismus" (Verlag
Karl Hoym, Hamburg 1923, 59 Seiten) voransetzt, meister¬
lich zu handhaben versteht. Im übrigen gilt von dieser
Schrift dasselbe, wie von fast allen' kommunistischen Kund¬
gebungen: was darin wahr ist, ist nicht sehr neu, ünd was
neu, nicht wahr!
Max Beer, von dessen „Allgemeiner Geschichte des
Sozialismus und der sozialen Kämpfe" wir schon gesprochen
haben („Betriebsrat", 1922, Nr. 18), hat sein Werk mit dem
nun vorliegenden fünften Teil: „Die neueste Zeit bis 192(1",
zu Ende gebracht (Verlag für Sozialwissenschaft, Berlin
1923, 111 Seiten, Grundzahl 1.45). Beer hat es auch diesmal
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verstanden, auf sehr knapp bemessenem Raum die Fülle des
Stoffes zu meistern und vor den Augen des Lesers ein, wenn
auch konzentriertes und oft lückenhaftes, so doch plastisch
wohlgelungenes Bild der Entwicklung all der machivollen
Grundgedanken, welche die sozialistische Weltanschauung
der Gegenwart gezimmert haben, entstehen zu lassen.
Am 28. Juni hat sich zum neuntenmal der Tag des Dramas
von Sarajevo, welches den Weltkrieg einläutete, gejährt. Aus
diesem Anlaß erschien im Verlag der Frankfurter Societätsdruckerei ein sehr bemerkenswerter Beitrag zur Ent¬
stehungsgeschichte des Weltkrieges aus der Feder des Ser¬
ben Stanoje Stanojevic: „Die Ermordung des Erzherzogs
Franz Ferdinand" (66 Seiten, Grundzahl 0.80). Stanojevic,
welcher Professor der Belgrader Universität ist, befleißigt
sich einer peinlichen Objektivität und bringt eine Menge
neuen, bisher völlig unbekannten Materials, insbesondere
über die Organisation des Attentats bei. Die Ubersetzung
aus dem Serbischen ins Deutsche hat Hermann Wendel
besorgt, was allein schon die Qualität des Büdhlein's ga¬
rantiert. Von Wendel ist übrigens vor nidit langem eine
neue Sammlung von Essays unter dem Titel: „Aus drei
Kulturen" herausgegeben worden (Verlag für Sozialwissen¬
schaft, Berlin 1923, 240 Seiten, Grundzähl 3). In drei Ab¬
schnitten führt er da eine ganze Reihe von Geistesträgern
des deutschen, französischen und südslawischen Volkes vor
und erfreut trotz des Widerspruches, der sich gegen manche
Einzelheit regen mag, wie immer durch die anmutige Leich¬
tigkeit seiner Darstellung.
Sehr interessante, gesellschaftsgeschichtliche Aspekte er¬
öffnet das gigantisch angelegte Werk des Historikers Fried¬
rich Mückle: „Der Geist der jüdischen Kultur und das
Abendland" (Rikola-Verlag, Wien 1923, 689 Seiten). Von
Oswald Spengler sichtlich beeinflußt, wenn auch in ausge¬
sprochenem Gegensatz zu ihm. gibt Mückle an der Hand
geschichtsphilosophischer Grundsätze, deren Stichhältigkeit,
insbesondere soweit sie gegen Marx polemisieren
(Seite 40 ff.), einigermaßen bestreitbar ist, eine' an bunter
Fülle der Gesichtspunkte reiche Charakteristik des indischen
und babylonischen Kult.urkreises, um sodann zum Haupt¬
thema überzugehen: dem Werdegang der jüdischen Kultur,
welcher angefangen vom Heldenzeitalter in der Wüste und
in Kanaan bis zum Niedergang im Zeitalter der Propheten
und zur Wiedererweckung durch die neue Kultur aes
Christentums sowie den beginnenden Einflüssen auf das
Abendland eine recht phantasievolle Schilderung erfährt.
Von Literatur über Oswald Spengler selbst heben wir
diesmal die Spengler sehr skeptisch gegenüberstehende
Schrift des Freiburger Professors Götz Briefs hervor:
„Untergang des Abendlandes, Christentum und Sozialismus"
(Verlag Herder, Freiburg LB., 116 Seiten, Grundzahl 1.60).
Die Quintessenz der Untersuchungen Briefs ist eine Ver¬
herrlichung des katholischen „Sozialismus". Mit triefender
Begeisterung spengler f r e u n d 1 i c h gibt sich hingegen
das Buch von Manfred Schröter: „Der Streit um
Spengler. Kritik seiner Kritiken" (C. H. Becksche Verlags¬
buchhandlung, München 1922, 168 Seiten). Was der Autor
sachlich vorzubringen hat, ist in keiner Hinsicht belangvoll.
Von Wert hingegen sind die mit großem Fleiß zusammen¬
gestellten Literaturangaben, welche einen annähernden
Überblick über den kolossalen Buchbetrieb gestatten, der
durch Oswald Spenglers Werke hervorgerufen worden ist.
Knapp vor Torschluß, vor dem Ende eines mit Geistes¬
schätzen so reich gesegneten Lebens hat der in der Vor¬
woche verstorbene bedeutende Wiener Philosoph Wilhelm
Jerusalem sein populärstes Werk „Einleitung in die
Philosophie" in neunter und zehnter Auflage herausgegeben.
(Verlag Wilhelm Braumüller, Wien—Leipzig 1923, X + 370
Seiten, Grundzähl 14.) Auch diesmal sind Verbesserungen
und Erweiterungen angebracht worden. So finden wir dem
Buche die Ideen Husserls und den Gedankengang der
„Philosophie des Als-Ob" neu einverleibt. Der soziologische
Grundcharakter, welcher durch die Einfügung eines eigenen
neuen Paragraphen über „soziologische Erkenntnislehre"
und durch die Fortführung der Geschichte der Soziologie
bis zur Gegenwart noch deutlicher unterstrichen wird als
bisher, macht das Werk auch für die marxistische Forschung
zu einer Quelle wichtiger Erkenntnisse.
Eingelaufene Bücher.
Christoph Hinteregger: Der Judenschwindel (Volks¬
buchhandlung, Wien 1923, 96 Seiten, 6000 K).
Bericht über den Internationalen Transportarbeiterkongreß
in Wien vom 2. bis 6. Oktober 1922 (Verlag der Inter¬
nationalen Transportarbeiter-Föderation, Amsterdam 1923,
130 Seiten).