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ARBEIT UND WIRTSCHAFT
schwindet, aus dieser kein sozialpsychologisches
Detail vernachlässigenden und dennoch stets die
große Linie einhaltenden Geschichtsanalyse, die, wo
immer man ihren Spuren folgt, stets aktuell, lebens¬
wahr und in meisterhafter sprachlicher Zucht ge¬
halten ist, aus dieser prachtvollen Fülle von Ge¬
danken wollen wir für heute einen einzigen heraus¬
heben, der nicht einmal der bedeutendste ist, uns
aber deshalb so. wertvoll erscheint, weil er in den
letzten Monaten gerade in Gewerkschaftskreisen
recht lebhaft diskutiert worden ist. Wir meinen das
Problemgebiet: Gewerkschaft und Politik.
Aus dem Buche Bauers leuchtet die eine^ grund¬
legende Idee hervor: daß so wie sich die Entwick¬
lung Österreichs und seiner Revolution vollzogen
hat, es der einzige Weg war, der im Interesse der
Erhaltung der Kampffähigkeit der Arbeiterklasse ohne
Gefährdung des Lebensnervs der Republik gangbar
war. Der Revolutionsprozeß Österreichs zeigt trotz
der Vielgestaltigkeit seiner Probleme, deren Cha¬
rakter gerade Bauer bis in die feinsten'Verästelungen
nachspürt, dennoch eine eigentlich überraschende
Durchsichtigkeit und Klarheit, für welche Durchsich¬
tigkeit und Klarheit allerdings Geschichtswerke wie
das Bauersche entscheidende Vorarbeit leisten.
Diese Durchsichtigkeit und Klarheit entspringt aber
letztlich den Dingen selbst und findet ihren
Grund in der ebenso fürchterlichen wie erhaben ein¬
fachen Tatsache des ungeheuren Bettler¬
elends, auf dem dieser Staat begründet worden ist.
Übergroßer Reichtum und übergroße Armut haben
die gemeinsame Eigenschaft, auch die komplizier¬
testen Fragen zu vereinfachen, das heißt sie zu nulli¬
fizieren. So betrachtet, ist das Geheimnis dieser wun¬
derbaren Rettung eines aller ökonomischen Hilfs¬
mittel beraubten, in seinen staatlichen und gesell¬
schaftlichen Grundfesten erschütterten, durch vier
Jahre Kriegsmorden auch moralisch schwankend ge¬
wordenen, hungernden, frierenden und an seiner
Lebensmöglichkeit verzweifelnden Volkes zu enträt¬
seln in dem primitiven Masseninstinkt, daß nur die
selbstgewollte Ordnung die Revolution und — das
Leben zu retten vermöge. So erhaben einfach, wie
gesagt, diese Tatsache ist, so schmälert sie doch
nicht im geringsten das Verdienst jener Männer, die
sich um die Vertiefung eines solchen Massenbewußtseins Tag und Nacht gerackert und geschunden
haben. Bauer hat das mit besonders packenden
Worten geschildert. Eine in Viktor Adlerschem Geist
erzogene Generation erleichtert den Vertrauens¬
männern ihre Aufgabe, aber sie erspart sie ihnen
nicht. Und nun wollen wir Bauer selbst den Mecha¬
nismus dieses unter so außerordentlichen Urnständen
sich entwickelnden „Masseninstinkts" beschreiben
lassen:
Alle wichtigen Regierungshandlungen wurden von den
sozialdemokratischen Mitgliedern der Regierung mit den
Leitern der großen proletarischen Organisationen, mit den
führenden Organen der Partei und der Gewerkschaften,
der Arbeiter und der Soldatenräte vereinbart. Den sozial¬
demokratischen Regierungsmitgliedern fiel dann die Auf¬
gabe zu, das Vereinbarte im Schöße der Koalitions¬
regierung und in der Nationalversammlung durchzu¬
setzen. Die Leiter der proletarischen Organisationen aber
mußten für den Regierungskurs, den sie mit den Re¬
gierungsmitgliedern vereinbart hatten, das Einverständnis
der Massen gewinnen, die Masse selbst zum Verzicht auf
die über das Vereinbarte hinausdrängenden Forderungen
bewegen. Die Leiter der proletarischen Organisationen
mußten zuerst Verständnis und Zustimmung der Ver¬
trauensmänner gewinnen: der Partei- und der Gewerk¬
schaftsvertrauensmänner, der Arbeiter- und der Soldaten¬
räte. Und diese Vertrauensmänner erst hatten dann die
schwierigste und die wichtigste Arbeit zu leisten: in
Betriebs- und Kasernenversammlungen vor der Masse
selbst die Politik der Organisationen durchzusetzen. Da
stand vor der wilderregten Masse ein Parteivertrauens-
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mann, ein Betriebsrat, ein Soldatenrat auf der Redner¬
tribüne. Die Masse war unzufrieden. Die Masse forderte
mehr, als der Vertrauensmann bringen konnte. Die Masse
schrie nach gewaltsamer Entscheidung. Der Vertrauens¬
mann sprach von der wirtschaftlichen Not der Republik,
von ihrer Abhängigkeit vom Ausland, von den Gefahren
des Konflikts mit den übermächtigen ausländischen
Kapitalmächten. Hunger, Verzweiflung, Leidenschaft im
Saal: Einsicht in das wirtschaftlich Mögliche, Erkenntnis
der internationalen Bedingtheit der Revolution, Mahnung
zur Besonnenheit und Verantwortlichkeitsgefiihl auf der
Rednertribüne. Es war ein schwerer Kampf, ein Kampf,
der an die Vertrauensmänner nicht nur die höchsten
intellektuellen, sondern vor allem die höchsten morali¬
schen Anforderungen stellte: die Fähigkeit, sich um der
großen Sache willen den eigenen Genossen furchtlos
entgegenzustellen, Beschimpfungen, Anklagen, zuweilen
selbst Bedrohungen, ja Mißhandlungen durch die erregten
Menschen zu ertragen und doch unerschüttert, in zähem
Kampf gegen Verzweiflung und Erregung das als not¬
wendig Erkannte schließlich durchzusetzen... (Seite
185 f.)
Wo blieb da noch Raum für eine Trennung von
Gewerkschaftstaktik und politischer Führung? Wo
war da überhaupt noch ein Unterschied wahrzu¬
nehmen? Ja, wer hätte es auch nur wagen dürfen,
solche Unterscheidungen zu fordern oder gar durch¬
zuführen? Jede politische Einseitigkeit hätte im Bol¬
schewismus, jede gewerkschaftliche in Lohndema¬
gogie, Fabriksöldnertum, Auswucherung der Kon¬
sumenten und Zusammenbruch der Volkswirtschaft
geendet. Die Überführung der Arbeitslosen in die
Produktionsstätten, die Zwangseinstellung in die Be¬
triebe, Achtstundentag, Arbeiterurlaubsgesetz, wie
hätte sich das mit gewerkschaftlichen Mitteln allein
erobern und behaupten lassen? Und umgekehrt:
wie hätte der Stab von Betriebsräten und Ver¬
trauensmännern, die heute eine so kraftvolle Unter¬
lage der für den politischen Gedanken des Sozialis¬
mus so lebenswichtigen gemeinwirtschaftlichen Un¬
ternehmungen bilden, wie hätte ein solcher Stab
tüchtiger Menschen gefunden werden können, wenn
nicht eine jahrzehntelange gewerkschaftliche Schu¬
lung weise Voraussicht geübt hätte? Glänzend be¬
währte sich an dem Zusammenarbeiten von Gewerk¬
schaften und Partei, angefangen von den Spitzen der
Regierung bis herunter zum letzten Vertrauensmann,
die alte strategische Regel: Getrennt marschieren,
vereint schlagen! Die Aufgabe aber, welche aus der
siegreichen Schlacht und der Notwendigkeit der Fest¬
haltung des Errungenen hervorging, läßt sich gar
nicht anders lösen als in der innigen Aktionsgemein¬
schaft der gewerkschaftlichen und politischen Orga¬
nisationen. Wie wenig sich die beiderseitigen Ge¬
rechtsame und Entfaltungsmöglichkeiten voneinander
abgrenzen lassen, zeigt Bauer, der diese Frage im
übrigen weiter gar nicht berührt, in anderem Zu¬
sammenhang an einem Beispiel ebenfalls aus dem
Gebiet der gemeinwirtschaftlichen Anstalten, in
welchen ja der Gedanke der unmittelbaren Kontrolle
der Industrie durch die in ihr tätigen Arbeiter und
Angestellten eine noch stärkere Verwirklichung er¬
fahren hat als im Betriebsrätegesetz. Dennoch läßt
sich nicht einseitig und einheitlich für jede gemein¬
wirtschaftliche Anstalt von vornherein festlegen, wer
dort jeweils die Führung in der Hand haben soll: ein¬
mal sind es mehr die den Staat repräsentierenden
politischen Elemente, ein andermal die genossen¬
schaftlichen und wieder ein andermal die gewerk¬
schaftlichen. Bauer sagt wörtlich:
Die Machtverhältnisse zwischen den drei Partnern der
Gemeinwirtschaft sind in den einzelnen Anstalten ver¬
schieden. In den Anstalten, die unmittelbar für den
Bedarf öffentlicher Körperschaften arbeiten — so zum
Beispiel in der Heilmittelstelle oder in der Wiener Holzund Kohlengesellschaft — überwiegt der Einfluß der
öffentlichen Körperschaften, des Staates oder der Ge¬
meinde. In den Anstalten, die unmittelbar für den Bedarf