Full text: Arbeit & Wirtschaft - 1923 Heft 15 (15)

547 ARBEIT UND WIRTSCHAFT schwindet, aus dieser kein sozialpsychologisches Detail vernachlässigenden und dennoch stets die große Linie einhaltenden Geschichtsanalyse, die, wo immer man ihren Spuren folgt, stets aktuell, lebens¬ wahr und in meisterhafter sprachlicher Zucht ge¬ halten ist, aus dieser prachtvollen Fülle von Ge¬ danken wollen wir für heute einen einzigen heraus¬ heben, der nicht einmal der bedeutendste ist, uns aber deshalb so. wertvoll erscheint, weil er in den letzten Monaten gerade in Gewerkschaftskreisen recht lebhaft diskutiert worden ist. Wir meinen das Problemgebiet: Gewerkschaft und Politik. Aus dem Buche Bauers leuchtet die eine^ grund¬ legende Idee hervor: daß so wie sich die Entwick¬ lung Österreichs und seiner Revolution vollzogen hat, es der einzige Weg war, der im Interesse der Erhaltung der Kampffähigkeit der Arbeiterklasse ohne Gefährdung des Lebensnervs der Republik gangbar war. Der Revolutionsprozeß Österreichs zeigt trotz der Vielgestaltigkeit seiner Probleme, deren Cha¬ rakter gerade Bauer bis in die feinsten'Verästelungen nachspürt, dennoch eine eigentlich überraschende Durchsichtigkeit und Klarheit, für welche Durchsich¬ tigkeit und Klarheit allerdings Geschichtswerke wie das Bauersche entscheidende Vorarbeit leisten. Diese Durchsichtigkeit und Klarheit entspringt aber letztlich den Dingen selbst und findet ihren Grund in der ebenso fürchterlichen wie erhaben ein¬ fachen Tatsache des ungeheuren Bettler¬ elends, auf dem dieser Staat begründet worden ist. Übergroßer Reichtum und übergroße Armut haben die gemeinsame Eigenschaft, auch die komplizier¬ testen Fragen zu vereinfachen, das heißt sie zu nulli¬ fizieren. So betrachtet, ist das Geheimnis dieser wun¬ derbaren Rettung eines aller ökonomischen Hilfs¬ mittel beraubten, in seinen staatlichen und gesell¬ schaftlichen Grundfesten erschütterten, durch vier Jahre Kriegsmorden auch moralisch schwankend ge¬ wordenen, hungernden, frierenden und an seiner Lebensmöglichkeit verzweifelnden Volkes zu enträt¬ seln in dem primitiven Masseninstinkt, daß nur die selbstgewollte Ordnung die Revolution und — das Leben zu retten vermöge. So erhaben einfach, wie gesagt, diese Tatsache ist, so schmälert sie doch nicht im geringsten das Verdienst jener Männer, die sich um die Vertiefung eines solchen Massenbewußtseins Tag und Nacht gerackert und geschunden haben. Bauer hat das mit besonders packenden Worten geschildert. Eine in Viktor Adlerschem Geist erzogene Generation erleichtert den Vertrauens¬ männern ihre Aufgabe, aber sie erspart sie ihnen nicht. Und nun wollen wir Bauer selbst den Mecha¬ nismus dieses unter so außerordentlichen Urnständen sich entwickelnden „Masseninstinkts" beschreiben lassen: Alle wichtigen Regierungshandlungen wurden von den sozialdemokratischen Mitgliedern der Regierung mit den Leitern der großen proletarischen Organisationen, mit den führenden Organen der Partei und der Gewerkschaften, der Arbeiter und der Soldatenräte vereinbart. Den sozial¬ demokratischen Regierungsmitgliedern fiel dann die Auf¬ gabe zu, das Vereinbarte im Schöße der Koalitions¬ regierung und in der Nationalversammlung durchzu¬ setzen. Die Leiter der proletarischen Organisationen aber mußten für den Regierungskurs, den sie mit den Re¬ gierungsmitgliedern vereinbart hatten, das Einverständnis der Massen gewinnen, die Masse selbst zum Verzicht auf die über das Vereinbarte hinausdrängenden Forderungen bewegen. Die Leiter der proletarischen Organisationen mußten zuerst Verständnis und Zustimmung der Ver¬ trauensmänner gewinnen: der Partei- und der Gewerk¬ schaftsvertrauensmänner, der Arbeiter- und der Soldaten¬ räte. Und diese Vertrauensmänner erst hatten dann die schwierigste und die wichtigste Arbeit zu leisten: in Betriebs- und Kasernenversammlungen vor der Masse selbst die Politik der Organisationen durchzusetzen. Da stand vor der wilderregten Masse ein Parteivertrauens- 548 mann, ein Betriebsrat, ein Soldatenrat auf der Redner¬ tribüne. Die Masse war unzufrieden. Die Masse forderte mehr, als der Vertrauensmann bringen konnte. Die Masse schrie nach gewaltsamer Entscheidung. Der Vertrauens¬ mann sprach von der wirtschaftlichen Not der Republik, von ihrer Abhängigkeit vom Ausland, von den Gefahren des Konflikts mit den übermächtigen ausländischen Kapitalmächten. Hunger, Verzweiflung, Leidenschaft im Saal: Einsicht in das wirtschaftlich Mögliche, Erkenntnis der internationalen Bedingtheit der Revolution, Mahnung zur Besonnenheit und Verantwortlichkeitsgefiihl auf der Rednertribüne. Es war ein schwerer Kampf, ein Kampf, der an die Vertrauensmänner nicht nur die höchsten intellektuellen, sondern vor allem die höchsten morali¬ schen Anforderungen stellte: die Fähigkeit, sich um der großen Sache willen den eigenen Genossen furchtlos entgegenzustellen, Beschimpfungen, Anklagen, zuweilen selbst Bedrohungen, ja Mißhandlungen durch die erregten Menschen zu ertragen und doch unerschüttert, in zähem Kampf gegen Verzweiflung und Erregung das als not¬ wendig Erkannte schließlich durchzusetzen... (Seite 185 f.) Wo blieb da noch Raum für eine Trennung von Gewerkschaftstaktik und politischer Führung? Wo war da überhaupt noch ein Unterschied wahrzu¬ nehmen? Ja, wer hätte es auch nur wagen dürfen, solche Unterscheidungen zu fordern oder gar durch¬ zuführen? Jede politische Einseitigkeit hätte im Bol¬ schewismus, jede gewerkschaftliche in Lohndema¬ gogie, Fabriksöldnertum, Auswucherung der Kon¬ sumenten und Zusammenbruch der Volkswirtschaft geendet. Die Überführung der Arbeitslosen in die Produktionsstätten, die Zwangseinstellung in die Be¬ triebe, Achtstundentag, Arbeiterurlaubsgesetz, wie hätte sich das mit gewerkschaftlichen Mitteln allein erobern und behaupten lassen? Und umgekehrt: wie hätte der Stab von Betriebsräten und Ver¬ trauensmännern, die heute eine so kraftvolle Unter¬ lage der für den politischen Gedanken des Sozialis¬ mus so lebenswichtigen gemeinwirtschaftlichen Un¬ ternehmungen bilden, wie hätte ein solcher Stab tüchtiger Menschen gefunden werden können, wenn nicht eine jahrzehntelange gewerkschaftliche Schu¬ lung weise Voraussicht geübt hätte? Glänzend be¬ währte sich an dem Zusammenarbeiten von Gewerk¬ schaften und Partei, angefangen von den Spitzen der Regierung bis herunter zum letzten Vertrauensmann, die alte strategische Regel: Getrennt marschieren, vereint schlagen! Die Aufgabe aber, welche aus der siegreichen Schlacht und der Notwendigkeit der Fest¬ haltung des Errungenen hervorging, läßt sich gar nicht anders lösen als in der innigen Aktionsgemein¬ schaft der gewerkschaftlichen und politischen Orga¬ nisationen. Wie wenig sich die beiderseitigen Ge¬ rechtsame und Entfaltungsmöglichkeiten voneinander abgrenzen lassen, zeigt Bauer, der diese Frage im übrigen weiter gar nicht berührt, in anderem Zu¬ sammenhang an einem Beispiel ebenfalls aus dem Gebiet der gemeinwirtschaftlichen Anstalten, in welchen ja der Gedanke der unmittelbaren Kontrolle der Industrie durch die in ihr tätigen Arbeiter und Angestellten eine noch stärkere Verwirklichung er¬ fahren hat als im Betriebsrätegesetz. Dennoch läßt sich nicht einseitig und einheitlich für jede gemein¬ wirtschaftliche Anstalt von vornherein festlegen, wer dort jeweils die Führung in der Hand haben soll: ein¬ mal sind es mehr die den Staat repräsentierenden politischen Elemente, ein andermal die genossen¬ schaftlichen und wieder ein andermal die gewerk¬ schaftlichen. Bauer sagt wörtlich: Die Machtverhältnisse zwischen den drei Partnern der Gemeinwirtschaft sind in den einzelnen Anstalten ver¬ schieden. In den Anstalten, die unmittelbar für den Bedarf öffentlicher Körperschaften arbeiten — so zum Beispiel in der Heilmittelstelle oder in der Wiener Holzund Kohlengesellschaft — überwiegt der Einfluß der öffentlichen Körperschaften, des Staates oder der Ge¬ meinde. In den Anstalten, die unmittelbar für den Bedarf

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